Im Zuge der Recherchen für unser Buch „APERITIVO Infinito“ reisten wir in den Norden Frankreichs, um die dortige Aperitif-Kultur kennenzulernen. Im französischen „Dictionnaire de l’Apéro“, einem aufschlussreichen Standardwerk, ist die Rede von „Chuche Mourette“, einem typischen Getränk des Nordens, das wir in Lille, der Hauptstadt der Region Hauts-de-France, entdecken wollten.
Wir kamen am Nachmittag an und begaben uns nach dem Hotel-Check-in gleich auf die Grande Place, um unsere Ankunft mit einem Aperitif zu begießen. Wir fragten den Kellner nach dem typischen Aperitif dieser Region, und er empfahl uns Picon Bière oder Picon Blanc, also Bier oder Weißwein, gemischt mit dem Orangenbitterlikör Picon, der eigentlich aus Südfrankreich stammt. Das kannten wir schon aus dem Elsass, und wir fragten nach dem Chuche Mourette. Der Kellner sagte, dass es den in ihrer Bar nicht gäbe, aber sicher irgendwo anders. Er brachte uns also Picon Bière und Bicon Blanc. Wir stießen auf unseren Aufenthalt in Lille an und ahnten noch nicht, wie aufwendig die sich Suche nach DEM Aperitif des Nordens, wie es immer hieß, gestalten würde.
Vor dem Abendessen in einem traditionellen Restaurant fragten wir wie üblich nach dem Aperitif des Hauses. Chuche Mourette? Fehlanzeige! Ja, den kenne man schon, so der Kellner, aber man führe ihn nicht mehr, weil ihn hier niemand mehr trinke, er sei irgendwie aus der Mode gekommen. Wo man ihn denn finden könnte, war unsere Frage. Den gebe es nur in den Souvenirläden für die Touristen, von den Einheimischen möge den keiner mehr. Eine niederschmetternde Auskunft. In der Literatur immer erwähnt, vor Ort nahezu verpönt. Ein Rätsel.
Am nächsten Tag fanden wir ein Souvenirgeschäft. So viele gibt es in Lille zum Glück nicht, und wir waren auch nicht sicher, ob das wirklich ein kompetenter Tipp des Kellners war. Jedenfalls fragten wir dort nach dem Chuche Mourette. Die Verkäuferin schüttelte den Kopf und verwies uns an die nächste Weinhandlung. Das klang vernünftig, und die nächste war ein paar Häuser weiter. Dort kannte man das Getränk nicht; es war auch eine Vinothek für Bordeaux-Weine, also ganz falsch. Später kamen wir an einer regionalen Weinhandlung vorbei, da mussten wir natürlich nachfragen. Nein, sie hätten dieses Getränk schon lange nicht mehr im Sortiment, aber in einem Souvenirladen könnten wir fündig werden.
Was sollen wir sagen? Ganz Lille schien den Aperitif Chuche Mourette zu kennen, aber niemand trank ihn mehr. Wir gaben auf. Welchen Sinn hat es, über einen Aperitif im Buch zu schreiben, der offenbar nur noch historisch und keine Realität mehr war?
Selbst im Internet und in einschlägigen Werken wie in dem oben erwähnten Dictionnaire findet sich wenig über dieses Getränk.
Was wir herausgefunden haben: Vor über hundert Jahren war im Norden Frankreichs Chuche Mourette als Aperitif jedenfalls groß in Mode. „Mourette“ ist ein veralteter Ausdruck, der im 18. und 19. Jahrhundert in Gebrauch war und vor allem im Norden Frankreichs schmeichelnd zu bzw. über Frauen gesagt wurde, eine verkürzte Verkleinerungsform des Wortes „Amour“ – „l’Amourette“, also „kleine Liebe“. Wahrscheinlich kann man ihn mit unserem ebenfalls alten Begriff „Liebelei“ übersetzen, der eine Liebschaft eines höherstehenden Mannes mit einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen bezeichnete, eine Verbindung, die in der jungen Frau viel Hoffnung auslöste, die aber in den allerseltensten Fällen eingelöst wurde. Man denke an Arthur Schnitzler, der dieser Liebesform ein literarisches Denkmal setzte.
„Chuche“ wiederum bedeutet „saugen, nippen, trinken“, so dass Chuche Mourette mit „die Liebelei trinken, an der Liebelei nippen“ übersetzt werden kann. Also ein recht eindeutiger Name für einen Aperitif, was auch das historische Etikett widerspiegelt.
Das historische Rezept scheint verschwunden zu sein. Die Brennerei Claeyssens in Wambrechies stellt heute wieder einen Chuche Mourette her, er wurde „wiedererfunden“, neu kreiert, weil offenbar kein Originalrezept überliefert worden ist. Auch das finden wir seltsam. Die Brennerei gibt auf ihrer Webseite an – sie versendet übrigens ihre Produkte nicht nach Deutschland und Österreich – dass der Likör aus Genever aus Loos, einer Kleinstadt bei Lille, und Crème de Cassis aus Dijon hergestellt wird. Genever ist ein Wacholderschnaps, der hauptsächlich in Belgien und den Niederlanden, aber auch in Wambrechies und in Loos hergestellt wird, wobei der letzterer ein weniger starkes Wacholderbeerenaroma aufweist. Die Webseite beschreibt den Geschmack als fruchtig nach schwarzen Johannisbeeren, wenig süß, wodurch sich die harmonische Verbindung der Wacholderspirituose und des Crèmes de Cassis widerspiegeln kann. Man trinkt ihn pur, gut gekühlt ohne Eiswürfel oder als Cocktail mit Bier, Cidre oder Champagner.
Ein paar Tage später in Paris. Wir gehen eine Straße im 9. Arrondissement entlang und entdecken eine offenbar gerade erst eröffnete Aperitif-Bar im italienischen Stil. Es ist noch sehr früher Abend, wir treten ein und sind die ersten Gäste. Die Karte weist viele innovative Kreationen auf, die wir noch nie gehört haben. Wir bestellen zwei. Der Kellner, ein sympathischer junger Typ, versprüht Begeisterung für seinen Job. Wir fragen ihn, ob er vielleicht Chuche Mourette kenne. Nein, noch nie gehört, aber er frage seine Chefin. Er geht zu ihr hin, spricht mir ihr, worauf sie zu uns kommt, uns begrüßt und fragt, woher wir das Getränk kennen. Wir kennen es nicht, wir wollen es kennen lernen. Die Chefin lacht. Sie sei aus Lille, ihre Eltern haben Chuche Mourette immer getrunken, sie kenne das gut. Aber heute trinke ihn niemand mehr. Sie habe den Namen schon lange nicht mehr gehört, und sie finde es amüsant, dass gerade zwei Fremde danach fragen. Nein, sie glaube, dass es dieses Getränk heute gar nicht mehr gäbe.
Wieder nichts!
Falls unsere Leserinnen und Leser einen Tipp für uns hätten, wo es eine Bezugsquelle in Österreich gebe, wären wir sehr dankbar, auch für andere Hinweise zu diesem Aperitif.